WANDA LURIE

Warschau, den 10. Dezember 1945. Amtierende Bezirksrichterin am Landgericht Warschau Halina Wereńko, delegiert zur Bezirkskommission für die Erforschung deutscher Verbrechen in Warschau, handelnd gemäß dem Dekret über die Hauptkommission und die Bezirkskommissionen für die Erforschung deutscher Verbrechen in Polen vom 10. November 1945 (poln. Gesetzblatt Nr. 51, Pos. 293), vernahm unter Eid die nachstehend genannte Person als Zeugin gemäß Art. 254 in Verbindung mit Art. 107, 109 und 115 KPK. Die Zeugin wurde über die strafrechtliche Haftung für Falschaussagen belehrt und sagte wie folgt aus:


Vor- und Nachname Wanda Felicja Lurie, geb. Podwysocka
Geburtsdatum 23. Mai 1911
Vornamen der Eltern Marcin und Maria
Wohnort Podkowa Leśna, Dębowastraße 2 (Haus Krygier)
Beschäftigung beim Ehemann, Händler, vor dem Krieg Vertreter der Fa. „Sokół“
Religion römisch-katholisch
Vorstrafen keine

Seit 1937 wohnte ich mit meiner Familie in Warschau, Wawelbergastraße 19/30.

Am 1. August 1944 setzten um drei Uhr nachmittags in unserem Gebiet heftige Kämpfe ein. Die Aufständischen hatten unweit unseres Hauses an der Kreuzung Wolskastraße und Górczewskastraße zwei Barrikaden aufgebaut. Im Nachbarhaus wurden Maschinengewehre, Munition und Granaten aufbewahrt.

Die Lage war von Anfang an sehr schwierig. Viele der Volksdeutschen, die hier lebten, schossen aus ihren Verstecken auf die Aufständischen und verrieten den Deutschen die Position und Lage der Polen. Bei der Aktion wurden Panzerkampfwagen „Tiger“ eingesetzt, viele Häuser wurden zerstört. Die deutschen Panzer griffen von der Górczewskastraße und Wolskastraße aus an. Nachdem die Deutschen in unser Gebiet gekommen waren, trieben sie die Männer aus den Häusern und befahlen, die Barrikaden abzubauen. Gleichzeitig wurden einige Gebäude mit von der Straße aus geworfenen Benzinflaschen in Brand gesetzt. Die Bevölkerung wurde vorher nicht aufgefordert, die Wohnungen zu verlassen. Es war den Menschen unmöglich, raus auf die Straße zu gehen. Ich war bis zum 5. August im Keller unseres Hauses mit meinen drei Kindern im Alter von 11, 6 und 3,5 Jahren, ich selbst war im letzten Monat schwanger. An diesem Tag kamen gegen 12.00-13.00 Uhr deutsche Gendarmen und Ukrainer auf unseren Hof und forderten die Bevölkerung auf, das Haus sofort zu verlassen. Als die Leute aus dem Keller auf der Hofseite herauskamen, warfen die Gendarmen Brandgranaten rein. Es herrschte Panik und Eile.

Da mein Mann von der Stadt nicht zurückgekehrt und nicht bei mir war, zögerte ich, das Haus zu verlassen. Ich habe gehofft, dass sie mich hier bleiben lassen. Ich musste aber raus. Ich ging mit meinen Kindern und der Familie Gula auf die Działdowskastraße. Die Häuser in dieser Straße brannten schon. Ich habe es anfangs in Richtung der Górczewskastraße versucht, aber in der Działdowskastraße standen viele Ukrainer und Gendarmen, die mich in diese Richtung nicht passieren ließen und mir befahlen, in die Wolskastraße zu gehen.

Das war ein schwerer Weg. Auf den Straßen lagen viele Kabel, Draht, Barrikaden- und Gummireste, Leichen. Die Häuser brannten auf beiden Straßenseiten. In der Straßen Wolska und Skierniewicka waren alle Häuser bereits abgebrannt. An der Kreuzung Działdowskastraße und Wolskastraße habe ich einzelne tote, junge Männer in Zivilkleidung gesehen.

In der Wolskastraße näherte ich mich einer Menschengruppe aus unserem Haus.

Wir waren insgesamt ca. 500 Personen am Fabrikgelände.

Ich habe die Gespräche meiner Leidensgenossen gehört und bin zum Schluss gekommen, dass Bewohner der Straßen Działdowska, Płocka, Sokołowskiej, Staszica, Wolska und Wawelberga auf dem Fabrikgelände zusammengetrieben wurden. Wir standen vor dem Tor der „Ursus“-Fabrik in der Wolska 55. Es war die Warschauer Niederlassung einer staatlichen Fabrik aus Ursus, einer Ortschaft bei Warschau. Wir warteten vor dem Tor etwa eine Stunde lang. Vom Fabrikhof waren Schüsse, Flehen und Jammern zu hören. Die Deutschen ließen jeweils hundert Menschen durch das Fabriktor in der Wolskastraße, oder besser gesagt, drängten sie hindurch. Ein etwa zwölfjähriger Junge, der durch das geöffnete Tor seine toten Eltern und seinen Bruder sah, bekam einen regelrechten Tobsuchtsanfall und begann zu schreien und nach seiner Mutter und seinem Vater zu rufen. Die Deutschen und Ukrainer schlugen ihn und stießen weg, als er versuchte, hineinzukommen. Wir hatten keinen Zweifel daran, dass auf dem Fabrikgelände gemordet wurde. Wir wussten nur nicht, ob auch alle getötet werden. Ich hielt mich immer wieder hinten in der Hoffnung, dass sie eine schwangere Frau doch nicht töten würden.

Ich wurde mit der letzten Gruppe reingeführt. Auf dem Fabrikhof sah ich Leichenstapel, die bis zu einem Meter hoch waren. Die Leichen lagen an mehreren Stellen über die gesamte linke und rechte Seite des ersten Hofes verteilt. Unter den Leichen erkannte ich ermordete Nachbarn und Bekannte. Wir wurden weiter durch die Mitte des Hofes zu einem engen Durchgang in den zweiten Hof geführt. Hier stellten die Ukrainer und Gendarmen uns in Viererreihen auf. Die Männer gingen mit erhobenen Händen. Die geführte Gruppe zählte etwa 20 Personen, darunter viele Kinder im Alter von 10-12 Jahren, oft ohne Eltern. Eine gelähmte alte Frau wurde den ganzen Weg von ihrem Schwiegersohn auf dem Rücken getragen, ihre Tochter mit zwei Kindern im Alter von vier und sieben Jahren ging daneben.

Rechts und links lagen Leichen in verschiedenen Positionen. Unsere Gruppe wurde zum Durchgang zwischen den Gebäuden geführt. Dort lagen bereits Leichen. Als sich die erste Vierergruppe der Stelle näherte, an der die Leichen lagen, schossen ihnen die Deutschen und Ukrainer von hinten in den Nacken. Die Getöteten fielen zu Boden, die nächsten Vier näherten sich und wurden auf dieselbe Weise getötet. Die gelähmte alte Frau wurde auf dem Rücken ihres Schwiegersohnes erschossen, dabei wurde er ebenfalls getötet. Die Leute schrien, flehten um Gnade oder beteten, als sie aufgestellt wurden.

Ich war unter den letzten Vier. Ich flehte die Ukrainer um uns herum an, die Kinder und mich zu retten. Einer von ihnen fragte, ob ich mich mit etwas freikaufen könne. Ich gab ihm drei goldene Ringe. Er nahm die Ringe und wollte mich hinausbringen. Der deutsche Gendarmerieoffizier, der die Hinrichtung leitete, bemerkte das. Er ließ es nicht zu und befahl mir, mich der Gruppe anzuschließen, die erschossen werden sollte. Ich fing an, ihn um das Leben meiner Kinder und meins anzuflehen; ich sagte etwas über die Ehre eines Offiziers. Er stieß mich weg, so dass ich umfiel. Er stieß auch meinen älteren Sohn weg und schrie dabei: „Schneller, schneller, du polnischer Bandit!“. In der Zwischenzeit wurde eine neue Gruppe von Polen angeführt. Ich näherte mich dem Hinrichtungsort zusammen mit drei Kindern in der letzten Viererreihe. Mit der rechten Hand hielt ich die Hände meiner jüngeren Kinder, mit der linken die Hand des älteren Sohnes. Die Kinder liefen, weinten und beteten. Als der ältere Sohn die Ermordeten sah, rief er, dass auch wir ermordet würden. Irgendwann schoss dann der Ukrainer hinter uns meinem ältesten Sohn ins Genick, die nächsten Schüsse waren für die jüngeren Kinder und mich bestimmt. Ich fiel auf die rechte Seite, aber der Schuss war nicht tödlich. Die Kugel ging links durch den Hals rein, durch den Schädel im unteren Teil und durch die rechte Wange wieder raus. Ich bekam eine Schwangerschaftsblutung. Ich spuckte ein paar Zähne zusammen mit der Kugel aus. Ich fühlte meine linke Seite taub werden, aber ich war die ganze Zeit bei Bewusstsein. Ich lag zwischen den Leichen und sah fast alles, was um mich herum passierte.

Ich beobachtete die nächsten Hinrichtungen. Eine neue Männergruppe wurde herangeführt und ihre Leichen fielen auf mich. Ungefähr vier Leichen drückten mich zum Boden. Dann kam die nächste Gruppe von Frauen und Kindern. Die Hinrichtungen dauerten bis zu den späten Abendstunden an – es wurde eine Gruppe nach der anderen ermordet.

Die Exekutionen hörten erst auf, als es bereits dunkel war. In den Pausen gingen die Henker über die Leichen, traten sie und wandten um, gaben den noch Lebenden den Todesschuss und raubten Wertvolles. Sie fassten die Leichen durch irgendwelche speziellen Stoffstücke an. Sie zogen mir die Uhr von meinem Handgelenk und bemerkten dabei nicht, dass ich noch lebte. Bei diesen Gräueltaten tranken die Mörder Wodka, sangen fröhliche Lieder und lachten. Neben mir lag ein dicker, großer Mann in einer Lederjacke, der lange röchelte. Bevor er starb, schossen die Deutschen fünf Mal auf ihn. Dabei haben sie mich am Bein angeschossen. Ich lag lange Zeit in einer Blutlache, niedergedrückt von den Leichen. Ich dachte nur an den Tod, wie lange ich noch leiden würde. In der Nacht konnte ich die Leichen, die auf mir lagen, wegschieben.

Am nächsten Tag fanden keine Erschießungen mehr statt. Die Deutschen stürzten mehrmals mit Hunden hinein, liefen über die Leichen, um zu prüfen, ob noch jemand am Leben geblieben sei. Ich hörte einzelne Schüsse, wahrscheinlich wurden die noch Lebenden ermordet.

Ich lag so drei Tage lang bis Montag (die Hinrichtung fand am Samstag statt). Am dritten Tag spürte ich die Bewegungen meines ungeborenen Kindes. Dies gab mir einen Energieschub und brachte mich auf den Gedanken, mich zu retten. Ich fing an, darüber nachzudenken und suchte nach Rettungsmöglichkeiten. Ich versuchte aufzustehen, musste mich jedoch dabei mehrmals übergeben, ich bekam Schwindelanfälle. Schließlich kroch ich auf allen vieren zwischen den Leichen bis zur Wand. Leichen lagen überall auf dem ganzen Hof, gestapelt, so hoch wie ich selbst.

Ich hatte den Eindruck, dass dort über 6.000 Tote liegen könnten.

Ich kroch von der Stelle, an der ich gelegen habe, bis zur Wand und suchte eine Möglichkeit wegzukommen. Im Durchgang, über den wir hierher geführt wurden, lagen überall Leichen. Ich vernahm Stimmen der Deutschen hinter dem Tor und musste nach einem anderen Weg suchen. Ich kroch bis zum dritten Innenhof, stieg auf eine Leiter und gelang über ein geöffnetes Fenster in die Fabrikhalle. Ich hatte Angst vor den Deutschen und blieb hier die ganze Nacht. Nachts heulten in der Płockastraße die „Tiger“-Panzer unaufhörlich, Flugzeuge bombardierten. Ich dachte, jeden Moment könnte die Fabrik mit den Leichen niederbrennen. Am Morgen wurde es ruhig. Ich kletterte zum Fenster und sah einen lebenden Menschen im Hof, Frau Zofia Staworzyńska, die auch in unserem Haus wohnte. Ich schloss mich ihr an. Ein etwa 60-jähriger Mann mit einem ausgeschlagenen Auge, dessen Namen ich nicht kenne, kroch auf uns zu. Nach langem Suchen und vielen Versuchen entdeckten wir einen Ausgang in Richtung der Skierniewickastraße und nutzten ihn zusammen mit Frau Staworzyńska, um die Fabrik zu verlassen. Der Mann blieb, als er die Stimmen von Ukrainern hörte.

Frau Staworzyńska und ich gingen raus zur Skierniewickastraße und wollten zum Krankenhaus in der Vorstadt Czyste. In der Wolskastraße standen Ukrainer – anfangs war ihnen nicht bewusst, woher wir kamen. Sie hielten uns an und trieben uns trotz unserer Bitten und unseres Flehens, uns als Verwundete zum Krankenhaus durchzulassen, in Richtung Wola, dabei sammelten sie noch viele Menschen auf.

An der Sankt-Stanislaus-Kirche wurden die jungen Menschen von den älteren getrennt. Eine Gruppe junger Männer und Frauen wurde in ein zerstörtes Haus geführt und nach einer Weile hörten wir Schüsse. Ich nehme an, dass dort eine Hinrichtung stattfand.

Die anderen, mich eingeschlossen, wurden in das Adalbert-Krankenhaus in der Wolskastraße getrieben. Auf dem Weg dorthin sah ich Leichen und Leichenteile auf den Straßen und Bürgersteigen liegen. Die Leichen wurden von bewachten Polen weggeräumt. Vor der Kirche standen deutsche Offiziere, zur Begrüßung schubsten, schlugen und traten sie uns. In der Kirche befanden sich bereits viele Warschauer aus verschiedenen Stadtteilen. Ich lag ein paar Tage lang am Hauptaltar, ohne versorgt zu werden. Nur meine Leidensgenossen gaben mir etwas Wasser.

Nach zwei Tagen wurde ich zusammen mit anderen Schwerverletzten und Kranken mit einem Pferdewagen in das Durchgangslager in Pruszków gebracht und von dort ins Krankenhaus in Komorów und dann nach Podkowa Leśna transportiert.

Zurzeit fühle ich mich nicht gesund. Aber ich muss arbeiten, um nach diesen schrecklichen Erlebnissen mein Kind großzuziehen.